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Horst Samson

 

Über die Endlosschleife

 

 

Martin Samson - MeldefahrerMartin Samson - Meldefahrer

***

 

PÜNKTLICHER LEBENSLAUF

 

           für meinen Vater

 

Nachts setzt sich Vater

Den Stahlhelm auf,

Steckt sich ein Gebetbuch

In die Brusttasche

Und fährt mit einer schwarzen NSU

Durch ein Minenfeld bei Narwa

In Richtung Leningrad.

 

Morgens um fünf

Ist er wieder da.

 

***

 

Hinter dem Gedicht: Die Geschichte. Das Gedicht hinter der Geschichte, das Gedicht vor der Geschichte. Die Geschichte davor und dahinter, das Gedicht, mein GedICHt.

 

Es hört nicht auf, nicht das Gedicht und nicht die Geschichte. Seit Wochen trage ich beides in meinem Kopf herum. Darüber soll ich schreiben, will ich schreiben, werde ich schreiben. Aber erklären kann ich nichts, nicht das Gedicht, nicht die Geschichte, schon gar nicht wie das eine, wie das andere entstanden ist. Soweit mein erstes Geständnis, Euer Ehren, an alles andere habe ich keine genaue Erinnerung.

 

Ich weiß nur, Euer Gnaden, jede Nacht ist Krieg. Und jeder Krieg ist längst verloren, bevor er überhaupt beginnt. Das schrieb ich in einem Lied. Der Krieg ist eine Endlosschleife aus Gewalt, Entsetzen und Verbrechen: Wie Sisyphos seinen Felsblock, so wälzen Soldaten ihren Krieg vor sich her. Das ging auch Vater so, nie kam er sich dabei wie ein Held vor. Für ihn stand fest: Er hatte vor seinem Richter lebenslänglich bekommen, war Täter und Opfer in einer Person. Und es zerrieb ihn das Gewissen im Spannungsverhältnis zwischen der Sinnwidrigkeit des Krieges und der Schmach der Verführung einerseits und seiner Sehnsucht nach einem geradlinigen sinnvollen Leben andererseits. Darüber gibt es keine Berichte, keine Gutachten, keine Memoiren. Es gibt nur mich!   

 

Ich bin der Zeuge des Martin Samson, der einzige Mitwissende im Zeugenstand, der weiß, dass niemand weiß, auch ich nicht, wie mein Gedicht „Pünktlicher Lebenslauf“ entstanden ist.

 

Den berüchtigten Rahmen, den kann ich ziehen, die Grenze rund um das Geschehen, rings um  die unscheinbaren Wörter, die bis zum Bersten aufgeladen sind mit Sinn und trotz höchster Dramatik, die sich dahinter verbirgt, dennoch so gelassen auf das schneeweiße Papier vor mir hinflatterten, gerade so als hätte ich sie herbeigerufen, die Welt in Buchstaben zu gießen.

 

Als diese neun Zeilen über mich kamen und ich sie vor mir las, glaubte ich zunächst an ein  Wunder, ich staunte und las, und staunte wie ein Kind. Kein Wort schien mir überflüssig, keines strich ich, keines schrieb ich dazu, es war vollkommen auf Anhieb. Es hatte plötzlich aus mir geschrieben, nach Jahren - und es wurde ein Gedicht, vielleicht das Beste, das ich je schreiben kann, jedenfalls über die dunkle Seite der Geschichte meiner Familie, die Geschichte meines Vaters, über die Geschichte - eine nie vergehende Geschichte, eine Geschichte, die auch mit dem Tod meines Vaters ihr Ende nicht sucht, nicht findet.

 

Ihr Anfang steckt sichtbar und beweisbar im Schnee der Zeit, jener Zeit des Zweiten Weltkrieges, an der damaligen Ostfront, irgendwo in den Weiten Russlands. Dorthin hatte es meinen Vater als jungen Mann verschlagen. Zu suchen hatte er dort nichts, er hatte dort auch gar nichts verloren. Soldat war er bei der Nordland-Panzerdivision, SS-Mann und Meldefahrer zwischen Front und Hauptquartier.

 

Seine schwarze NSU, ein schweres schnelles Gefährt, darauf fuhr er durch die Hölle. Die Freude dabei war mehr als nur verhalten, ich weiß es, aus seinen späteren Erzählungen, aber auch von einem Foto, das er Zeit seines Lebens in der Brieftasche trug. Darauf zu sehen ist jene schwarze NSU und ein junger Soldat in Uniform, mitten in sibirischem Schnee, vor einem scheinbar verlassenen Gehöft. Der junge Mann auf dem Motorrad blickt geradeaus in die Kamera. Er weiß in diesem Augenblick, dass ein Erinnerungsbild entsteht, er setzt sich im Sattel des Motorrads zurecht, blickt seinem Leben ins Auge - dann klickt es leise, als würde jemand eine Pistole entsichern. Der Schnappschuss ist fertig, schwarz auf weiß. Vater lacht nicht, er lächelt nicht, er blickt ernst, geradlinig und offen in die Linse als würde er eine Botschaft  morsen. So sieht keiner aus, der gerne im Krieg, der stolz auf seine Waffen ist. Über seinen dunkelblauen Augen hängt ein Schleier von tiefer Traurigkeit.

 

Freunde sind zu diesem Zeitpunkt längst gefallen, sein Schwager in spe. Und über eine „deutsche Mission“ in fremdem Lande wird er Zeit seines 83-jährigen Lebens nie auch nur ein Wort der Begeisterung verlieren wie andere Männer im Dorf.

 

Überhaupt erzählt er nur ganz selten und wortkarg über diesen verdammten Krieg, den er  immer öfter und entschlossener ein Verbrechen nennt.

 

Am liebsten schweigt er über jene weggeworfenen, gestohlenen Jahre, in denen seine Jugend verflog, seine leichte Fröhlichkeit, die ihm als junger Musikant oft ins Gesicht geschrieben ist, die in leichenstarren Augen und Gräbern hängenblieb. Ich denke oft über den Krieg nach, ich habe viel erlebt und gesehen, Bilder, die einen nicht los lassen, gesteht er irgendwann mal linkisch seinem heranwachsenden, mit Fragen drängenden Sohn, der als Kind immer wieder dieses wunderschöne Foto mit dem Vater auf seinem großen Motorrad zu sehen begehrte.

 

Und manchmal, wenn die dunkelblauen Augen des Buben unerträglich bittend leuchten, zieht Vater dieses Foto aus seiner Brieftasche. Denn dort bewahrt er es auf, 24 Stunden am Tag ist dieses Foto griffbereit in seiner Nähe. Nie wird er es zu den anderen Fotos in die braunen Schachteln ablegen, bis zu seinem letzten Tag nicht. Es bleibt in der Brieftasche - als wäre es ein Stück von ihm, als wäre es ein Brief, ein Schreiben an die Nachwelt, eine verschlüsselte Botschaft an seine zwei Söhne.

 

Das Bild ist irgendwann schon arg zerknittert und vergilbt und der jüngste Sohn fürchtet, es könnte unrettbar verloren gehen. Das sieht wohl auch Vater so, denn ohne jemandem ein Wort zu sagen, setzt er sich eines Tages auf sein schwarzes NSU - es ist ein Vierteljahrhundert später - und fährt in die 20 Kilometer entfernte Stadt Großsanktnikolaus, lässt dort in einem Fotostudio eine Kopie anfertigen.

 

Sein neues Motorrad, für das er und Mutter Jahre lang gespart, die Lei (rumänische Währung) schwarz in D-Mark umgetauscht hatten und das Geld von weitläufigen Verwandten in die Bundesrepublik Deutschland schmuggeln ließen, hatte er sich Ende der 60er Jahre von einem Jugendfreund aus dem Saarland ins Banat schicken lassen. Als es in einer Kiste ankommt und im Familienfieber von Vater ausgepackt wird, sind Mutter, Oma und Bruder ziemlich erschrocken, auch Vater ist paff. Statt wie gewünscht ein neues Motorrad, steht plötzlich eine alte schwarze NSU im Haus, ähnlich jenem Motorrad, das Vater bei Stalingrad fuhr, nur weniger PS-stark. Es war ein Oldie, schwarz wie die Nacht und aus anderen Zeiten. Der einzige, dem das Herz ungetrübt vor Freude hüpfte, das war ich, der Jüngste im Haus, weil es fast auf die Form genau jenes Motorrad von meinem Lieblingsfoto war.

 

Tausend Sachen beherrscht der Teufel, aber dichten kann er nicht. Aber ich. Und eines Tages gelang mir der Beweis. Ich schrieb ein neun Zeilen langes Gedicht über diesen schrecklichen unendlichen Krieg und nannte es „Pünktlicher Lebenslauf“. Der Titel allein spiegelt eine Generation in ihrem existentiellen Verständnis. Aber das Gedicht ist mehr, sagt Hilde Domin, als die Summe all seiner Interpretationen. Diesen Satz habe ich als junger Dichter gelesen und sofort unterzeichnet. "Pünktlicher Lebenslauf" ist das Beweisstück dazu.

 

Nachts, das bekam ich von Vater mit, bedrängten ihn oft Bilder des Grauens, Erinnerungen an zerfetzte Kameraden, zerfetzte Zivilisten, an das Elend des Russlandfeldzuges, den er überlebt hatte und der an jenem 9. Mai 1945, als er in Berlin in russische Gefangenschaft geriet, kein Ende gefunden hatte. Aber das konnte er damals noch nicht wissen. In russischer Kriegsgefangenschaft, danach während der Deportation in die Baragansteppe in den 50er Jahren, wo ich das Licht der Welt erblickte, gab es reichlich Zeit für einen gereiften Mann, über Recht und Unrecht, Schuld und Sühne nachzudenken. Nach allem, was ich weiß, hat er es oft getan.     

 

Das Gedicht "Pünktlicher Lebenslauf" - wann immer ich es irgendwo einschickte, wurde es veröffentlicht, es erschien in Zeitschriften, in Anthologien, auch in meinem von der Zensur schwer zerfledderten Gedichtband „reibfläche“ (1982, Kriterion Verlag Bukarest) ist es zu lesen, zuletzt im „Jahrbuch der Lyrik 2009“, herausgegeben von Christoph Buchwald und Uljana Wolf. Es hat für mich eine geradezu magische Wirkung, es lässt mich nicht los und es verbindet mich bis heute wie eine imaginäre Nabelschnur mit meinem Vater und seiner Geschichte, mit meiner Geschichte. Und manchmal stehe ich in Heidelberg vor seinem Grabstein und denke statt des Vaterunser für ihn mein Gedicht „Pünktlicher Lebenslauf“ - Wort für Wort, Zeile für Zeile, Leerzeichen für Lehrzeichen. 

 

Ich hatte mir dieses kurze Gedicht 1981 für Vater ausgedacht, manchmal denke ich auch, es hat mich einfach gefunden, während es rastlos durchs Universum flatterte. Um Vater zu schützen, schrieb ich es damals einem „Nachbar Hans zum 60.“ zu, einen Nachbarn, den ich nie hatte, den es nie gab. Als ich Vater dann meinen Gedichtband „Reibfläche“ (1982) schenkte, sagte er bei meinem nächsten Besuch im Dorfe Albrechtsflor, wo meine Eltern wohnten: „Ich hab Deine Gedichte gelesen, sehr schön! Weißt Du, wann ich geboren bin?“ „Am 10. März 1923“, sagte ich wie aus der Pistole geschossen. „Das ist gut!“, sagte er und lächelte. Ich wusste, er weiß Bescheid und ich lächelte zurück, fasste ihn um die Schulter und drückte seinen schmalen Körper innig an mich. Ich liebte ihn. Und wie. Das Gedicht ist ... mein Zeuge.