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Interview aus der Zeitschrift „Spiegelungen“ 4/2008, München

„Ich suche mein Leben von heute im Gestrigen“

Der Literaturwissenschaftler Stefan Sienerth im Gespräch mit dem Schriftsteller Horst Samson

 

Horst Samsons Bildungsweg und beruflicher Werdegang ist in mancherlei Hinsicht anders verlaufen als der seiner etwas älteren Banater Dichterfreunde. Seine Familie ist durch die Deportation in den Baragan, wo er am 4. Juni 1954 in Salcîmi geboren wurde, von den politischen Ereignissen ärger betroffen worden als die vieler seiner Schriftstellerkollegen. Im Unterschied zu ihnen hat er nicht Germanistik studiert, sondern sich am Pädagogischen Lyzeum im siebenbürgischen Hermannstadt zum Grundschullehrer ausbilden lassen. Danach war er Lehrer in Busiasch im Banat und ab 1977 Journalist der „Neuen Banater Zeitung“ in Temeswar.
1987 siedelte er in die Bundesrepublik Deutschland aus. Nachdem er zeitweilig als freischaffender Schriftsteller und Publizist tätig war, übt Samson, der in Neuberg (Hessen) lebt, erneut den Beruf eines Zeitungsredakteurs aus. Nach seinem 1978 erfolgten Buchdebüt veröffentlichte Samson in Rumänien insgesamt vier Lyrikbände, zu denen in Deutschland die Gedichtbücher Wer springt schon aus der Schiene (1991), Was noch blieb von Edom (1994) und La Victoire (2003) hinzukamen. Die Realität des banatschwäbischen Dorfes ist, künstlerisch kodifiziert, ebenso präsent in seinen Texten wie Siebenbürgen mit seiner Landschaft, seiner Kultur und Geschichte. Später kam die Aufarbeitung der Erfahrungen, die er im kommunistischen Rumänien und nach seiner Aussiedlung in die Bundesrepublik Deutschland machte, hinzu, die seinen Gedichten eine unverkennbar eigene Note verleiht. Samsons bislang beeindruckendste dichterische Leistung ist sein Poem La Victoire. Für sein literarisches Werk ist er u. a. mit dem Preis des rumänischen Schriftstellerverbandes (1981), dem Nordhessischen Lyrikpreis (1992) und dem Meraner Lyrikpreis (1998) ausgezeichnet worden.

 

Sienerth: Horst Samson, wie andere rumäniendeutsche Schriftsteller hattest auch du unlängst die Möglichkeit, in deine seinerzeit vom kommunistischen Geheimdienst „Securitate“ erstellte Akte Einsicht zu nehmen. Wie ist einem zumute, wenn man nach rund zwanzig Jahren mit einer Vergangenheit konfrontiert wird, die nicht vergehen will?

Samson: „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen“, dieser große Satz von William Faulkner aus seinem Mitte der 1930er Jahre erschienenen Roman Pylon ist mir seit Längerem ins Hirn gebrannt. Gott sei Dank ist der ideologisch begründete Mord an unserer zivilen Gesellschaft durch kommunistischen Terror und seine Galionsfiguren am Ende misslungen. Sie sind gescheitert, aber sie hausieren in den Löchern. Es zuckt der Leib noch gewaltig, aus dem das alles kroch. Nichts ist tot, in Wirklichkeit ist auch nichts vergangen. Es hat sich verlagert, aus der Realität in die Köpfe. Wir trennen die Erlebnisse nur von uns ab, stellen uns fremd, wie das Christa Wolf so trefflich in Kindheitsmuster in Ergänzung des Faulkner-Satzes geschrieben hat, um uns vor neuen Verwundungen zu schützen. Aber es gelingt uns nicht, nicht wirklich. Real gesehen gibt es nach Platon zwar nichts anderes als die Gegenwart, die Vergangenheit habe weder Raum und Ausdehnung, noch sei sie Materie, sie sei nichts Weiteres als ein inexistentes Theoriegebilde. Das mag idealphilosophisch betrachtet so sein, aber den Raum der Vergangenheit spürte ich mit drückender Deutlichkeit in meinem über die Akten gebeugten Kopf, ich sah seine Ausdehnungen, ich hätte sie mit dem Zollstock vermessen können. Und das, was man Erinnerungen nennt. Begebenheiten von damals gleiten in Endlosschleifen durch meine Hirnwindungen. Das „Theoriegebilde“ und seine Verflechtungen mit vergessen geglaubten Emotionen, Erlebnissen, Enttäuschungen und Ängsten hat sich rasend schnell in mir vernetzt, mich total besetzt an jenem ersten Tag bei der Rumänischen Behörde zur Aufarbeitung der „Securitate“-Hinterlassenschaft (CNSAS) in Bukarest, als ich völlig unorganisiert durch die Blätter segelte. Ich war erregt, verärgert und maßlos enttäuscht, aber auch überrascht, dass die „Securitate“ genügend Mikrofone hatte, alle, die sie als Staatsfeinde einstufte – und das waren nicht wenige – abzuhören und zu verfolgen. Manches, was ich da las über die gegen mich initiierten operativen Vorgänge, kam mir wie eine Passage aus Tausendundeiner Nacht vor.
Als ich meine Akte durchforstete, mal da, mal dort nachlas, kam irgendwann ein Gefühl wie Schüttelfrost über mich, ich spürte eine Angst, die mir von ganz tief, aus dem Inneren meines Körpers, ins Bewusstsein kroch und mich erhitzte. Dabei war und bin ich eigentlich kein ängstlicher Mensch. Er fürchtet, würden Informelle Mitarbeiter (IM) zu Protokoll geben, weder sich selbst noch das Weihwasser. Eines aber habe ich damals blitzschnell begriffen. Ich bin haarscharf am Gefängnis vorbeigeschrammt, und als ich in meiner Akte las, dass ich nicht nur als Staatsfeind und schädliches Element, sondern auch noch als westdeutscher Spion geführt wurde, da bekam die Todesdrohung aus dem Jahre 1986, die ich schon wenige Jahre später lediglich als Einschüchterungsversuch abgetan hatte, zwanzig Jahre danach eine deutlich scharfe Kontur – und die erinnerte mich verdächtig lebhaft an Damokles’ Schwert, das am Rosshaar über mir baumelte. Eine innere Stimme sagte mir, in dieser Konstellation hätte es passieren können. Im gleichen Augenblick erinnerte ich mich an das Treffen der Stasi-Generäle in Holland, über das in der Presse berichtet wurde, wo der eine erklärte, dass man mit Vaterlandsverrätern und Spionen kurzen Prozess zu machen und sie an die Wand zu stellen habe. Es war wie eine brennende Lunte, die mich zum verspäteten Explodieren bringen wollte. Ich hielt das nicht aus, ich musste raus, verließ panikartig den Saal. Im Vorraum atmete ich durch. Warum tust du dir das an, sagte ich zu mir, was suchst du hier, wollte ich wissen. Ich hörte nichts außer meinem Atem, spürte die fliehende Brust und sah den aufmerksam herüberschielenden Pförtner. In diesem Augenblick wusste ich plötzlich, dass ich mir selbst auf der Fährte war, dass ich Klarheit wollte und brauchte, ich musste wissen, welche meiner Freunde meine Feinde waren, vielleicht auch erfahren, warum!

Sienerth: In Rumänien ging dir der Ruf voraus, von den Schriftstellern deiner Generation einer der verbal aufmüpfigsten zu sein. Du hast dich bei Dichterlesungen, bei Gesprächen mit Freunden, Autoren und Lesern und auch gegenüber den Behörden politisch oft recht freimütig geäußert, was einige deiner vermeintlichen Naivität zuschrieben, andere jedoch den Verdacht schöpfen ließ, du würdest bewusst provozieren. Gibt es Hinweise in deiner Akte auf dieses Verhalten?

Samson: Als ich aus Siebenbürgen, genauer aus Hermannstadt, wo ich das Pädagogische Lyzeum besucht hatte, ins Banat, nach Temeswar zurückkehrte und hier zum Literaturkreis „Adam Müller-Guttenbrunn“ (AMG) stieß, da war ich noch Lehrer an der deutschen Grundschule des Gymnasiums in Busiasch und mein Bild von der Gesellschaft und den parteipolitischen Mechanismen gewiss naiv. Das war so auch noch in meiner ersten Zeit als junger Redakteur der Neuen Banater Zeitung (NBZ). Meine Hauptinteressen lagen damals noch im Bereich der Musik, ich beherrschte viele Instrumente, Gitarre, Saxophon, Tuba, Posaune, Akkordeon und auch etwas Klavier, darauf konzentrierte ich mich zu jener Zeit. Ich sang gerne, blies Posaune in der Hermannstädter Bigband unter Leitung von Erik Manjak beim ersten internationalen Jazz-Festival, ich machte mir nur oberflächlich Gedanken über das Regime und die damit verbundenen Ungerechtigkeiten, denen ich selbst ausgesetzt war. Die Literatur und die Schriftsteller, die ich dann im AMG traf, machten mich hellhörig, erst fragte ich nach, dann bohrte ich nach, und ich hatte die Gabe, schnell zu lernen, weil mich plötzlich alles interessierte. Der Ruf, der mir alsbald nacheilte, dass ich aufmüpfig sei und ein loses Maul hätte, war nicht ohne Grund entstanden. Ich übte mich im scharfen Formulieren, ich schlängelte verbal nicht so dahin in mäandernden Sätzen, ich sprach gerne Klartext, äußerte mich direkt und geradlinig. Diplomatisches Herumdrücken hasste ich wie Rheuma in der Wirbelsäule. Das ist bis heute so geblieben.
Wahr ist auch, und es gibt starke Beispiele dafür in meiner Akte, dass ich mir kein Blatt vor den Mund nahm, nicht zu Hause, nicht auf der Straße und auch nicht bei den Vorladungen. William Totok besuchte mich oft zu Hause in der Calea Aradului 25 in Temeswar, wir waren Kollegen bei der NBZ und befreundet. Er nahm fast immer sofort das Telefon aus dem Tageszimmer, stellte es in den Korridor und wickelte es noch in eine Decke ein. Dazu forderte er mich auf, das Radio anzudrehen. Anfangs ließ ich das zu, später nicht mehr. Meine damals oft geäußerte Devise lautete: Meine Meinung ist meine Meinung, und die äußere ich hier in der Wohnung, auf der Straße, in der Redaktion oder im Literaturkreis, unter Freunden oder Fremden. Ich hatte die Schizophrenie und das Versteckspiel satt, ich hatte mich entschlossen, zu sein, wie ich war, und zu sagen, was ich dachte. Das tat ich auch, tue es bis heute. Auch als Chefredakteur. Mit allen ,meinen’ Redakteuren und freien Mitarbeitern verbindet mich Freundschaft, ich drangsaliere niemanden, ich spiele mich nicht als Chef auf, ich habe klare Vorstellungen über Journalismus und Professionalität, ich verlange nicht, was ich nicht selbst bereit bin zu tun, und sie wissen ganz genau, dass bei mir hintenrum nichts läuft. Und hier in der Bundesrepublik Deutschland hat mir meine Geradlinigkeit und mein offener Diskurs natürlich auch schon schwer geschadet, aber ich bin zufrieden, dass ich mich nicht zum Jojo habe machen lassen, auch nicht als es um meine berufliche Existenz ging. In meiner Akte gibt es Hinweise noch und noch, dass ich mir den Mund nicht verbieten ließ und aus meinem Herzen keine Mördergrube machte. Das stärkste Beispiel in der Akte ist das Gespräch mit dem Temeswarer stellvertretenden Geheimdienstchef Ion Cristescu und dem Propagandasekretär des Kreisparteikomitees, Eugen Florescu, die uns als Verfasser eines Protestbriefes am 26. September 1984 ins Kreisparteikomitee vorgeladen hatten, um uns dort klein zu hacken, zu demütigen, einzuschüchtern und uns mit Gefängnis zu bedrohen. Ich übernahm sofort die Rädelsführerschaft und legte gewaltig los. Punkt für Punkt blätterte ich ihnen meine Unzufriedenheit mit dem System hin, direkt und ohne Abschweifungen, ohne Verrenkungen, ohne Verzierungen. Und als es daraufhin zum Eklat kam, zum offenen Disput, ließ ich mich nicht einschüchtern, sondern legte ein Zahnrad zu. Der Meinungsstreit entbrannte gewaltig, Florescu und Cristescu beschimpften uns, ich schimpfte zurück. Was wir uns denn vorstellten, riefen sie, wer wir hier wären, und wenn alle ihre Rechte wollten, könnten ja auch die arabischen Gaststudenten Forderungen einklagen. Damit war der Höhepunkt der Eskalation erreicht und mit erhobenem Zeigefinger rief ich ihnen zu: „Was stellen Sie sich eigentlich vor, wer Sie sind? Merken Sie sich das ein für allemal, wir Rumäniendeutschen sind nicht die Araber Rumäniens, ist das klar!“ Da gingen beide hoch, die Sicherungen brannten durch, es folgten wüste Drohungen, und sie warfen uns raus. Wir gingen wie die Sieger, selten hatte ich mich so stark gefühlt und war in jenem Augenblick so wehrlos wie nie vorher oder danach. Die – wie ich sie nenne – „Araberaffäre“ ist in dem darauf folgenden Bericht des Geheimdienstchefs Antonie Ianculescu und seines Stellvertreters Cristescu an das Innenministerium – Direktion I-a, Dienst II – bedauerlicherweise nicht mit einem einzigen Buchstaben vermerkt. Mir scheint, die hatten beide die Hose voll und wagten es nicht, den „Araber“-Vorfall nach Bukarest zu melden.
In einem sehr fröhlichen Teil des Berichtes erklären Ianculescu und Cristescu ihren Vorgesetzten in Bukarest, dass es ihnen gelungen sei, alle von Samson vorgetragenen Argumente zu widerlegen und zu beweisen, dass sie unzutreffend seien. Das ist wirklich eine der heitersten Stellen in meiner Akte, eine Passage von hoher humoristischer Qualität. Ich lache heute noch darüber, das könnte von Loriot sein. Weil ich aber in meinen Äußerungen immer so deutlich und direkt war und mir nichts gefallen ließ, hielt man mich wohl auch für einen ganz schlimmen Finger, einen Unverbesserlichen. Ab jenem Zeitpunkt war ich auch nicht mehr nur auf dem Papier Gegner des Regimes, sondern ein ,feindliches Element’, gegen das man – wie es ein „Securitate“-General etliche Akten später ausdrückte – „alle Mittel einsetzen (müsse), über die wir verfügen!“ Meine Mutter behauptet felsenfest, ich wäre schon als Kind manchmal so widerspenstig gewesen. Ich war tatsächlich bis zur achten Klasse äußerst draufgängerisch und rauflustig. Überhaupt glühte ich ganz schnell bei Ungerechtigkeiten. Damit habe ich immer noch ein Problem, ein Beherrschungsproblem. Dass meine Direktheit bei anderen vielleicht als provozierend empfunden wurde, das kann gut sein, zumindest kann ich mir das heute gut vorstellen. Damals dachte ich darüber nicht nach, weil ich mit mir im Reinen war. Ich war so naiv zu glauben, mir stünde auf die Stirn geschrieben oder auf meiner blauen Iris wäre zu lesen, dass ich ein aufrechter Freund und Mensch bin. Welch ein Irrtum! Das begreife ich jetzt – aus der eigenen Akte wird ersichtlich, dass ich mich auf der Stirn anderer selbst verlesen hatte. In dem zusammenfassenden Endbericht beschreiben die Geheimdienstler, dass sie nach dem ,Protestbrief der Sieben’ in Erfahrung hätten bringen können, dass ich noch andere Protestaktionen vorbereiten würde und Mitstreiter suchte. Darauf hätten sie unter meinen Dichterfreunden die Nachricht gestreut, dass der Samson für den Geheimdienst arbeiten würde, worauf sich alle von mir losgesagt hätten, was wiederum dazu geführt hätte, dass es mir, der ich nun isoliert und durch die Gerüchteküche kalt gestellt war, nicht mehr gelungen sei, gegen Partei und Staat aufzuwiegeln.
Damit wären wir bei der anderen Seite der Medaille, denn wahr ist auch, dass die Freunde mir nicht gesagt hatten, der oder jener verbreitet, du würdest für die Securitate arbeiten. Als ich nach der Bedrohung, man würde mich umbringen, in höchster Gefahr schwebte, da ließen sich die Freunde als Schutzmaßnahme in den westdeutschen Schriftstellerverband (VS) aufnehmen und genossen die Solidarität der bundesdeutschen Kollegen, ohne sich mit mir solidarisch zu verhalten. Das war so. Ich wusste von der VS-Geschichte kein Wort, hörte es nachts über den Rundfunksender Freies Europa und war am Boden zerstört. Es folgten Tage, an denen ich zum ersten Mal echte Angst hatte, bis es mir auf etwas verschlungenen Pfaden gelungen war, selbst Kontakte aufzubauen und Mitarbeiter der Deutschen Botschaft in Bukarest und des Goethe-Instituts auf meine Gefährdung aufmerksam zu machen. Danach beruhigte ich mich langsam. Nach der Lektüre meiner Akte kann ich meine Freunde von damals, die auch meine Freunde von heute sind, ein Stück weit verstehen. Vielleicht hatten sie wirklich Angst, ich wäre ein Täter, ein Spitzel, und könnte ihre VS-Geschichte torpedieren. Da frohlocken die „Securitate“-Jungs in ihrem Abschlussbericht wohl zurecht, da scheint ihnen etwas Unerwartbares gelungen zu sein, denn nach der VS-Geschichte war zwischen uns natürlich nichts mehr so, wie es vorher war.

Sienerth: Was hat dich bei der Lektüre deiner Akte am meisten berührt? Ist es der Stolz, wenigstens Versuche unternommen zu haben, sich einer totalitären Macht nicht zu beugen? Ist es die Freude, einem verbrecherischen Regime, dem man regelrecht ausgeliefert war, zwar mit „Blessuren“, aber ungebrochen entkommen zu sein? Gab es Enttäuschungen und unangenehme Überraschungen etwa darüber, dass Bekannte und Freunde diesem Druck bzw. den Verlockungen nicht standgehalten haben und sich – aus welchen Gründen auch immer – zu Werkzeugen dieses Einschüchterungs- und Repressionsapparates haben machen lassen?

Samson: Geblieben, im Gedächtnis eingebrannt, ist realiter nicht nur Nennenswertes, sondern auch Widerwärtigkeiten sind präsent, Verletzungen, Verrat, Wunden, die auf den schnellen Blick geheilt erscheinen, aber auch spontan aufreißen können. Die Verästelungen der Vergangenheit ranken sich mitunter schmerzlich ins Heutige und ihre widerwärtigen Verflechtungen mit unserer Biografie lähmen uns immer noch vor Entsetzen. Aber die Akten haben sekundär auch was Gutes: Sie gaben mir vergessenes, vielleicht verdrängtes Leben zurück, verloren geglaubte Briefe, Gedichte, sogar alte Freundschaften polierten sie auf. Richard Wagner und ich haben uns – nach zwei Jahrzehnten der Distanz aus teils komplexen Motiven heraus – wieder gefunden und das erfüllt mich, bei allem Dissens, der zwischen uns war, vielleicht noch oberflächlich fortbesteht, mit Freude. Als ich meine Akten hatte, beschloss ich für mich die sofortige Liquidierung der ,Geheimakten’ und ihre Überführung in die Öffentlichkeit. Ich ging also her, kopierte für alle Betroffenen ausnahmslos alle Dokumente, in denen sie namentlich in meiner Akte vorkamen. Wenn wir besser jene Jahre begreifen und auch die Täter enttarnen wollen, musste jeder von uns alles wissen, was uns an Dokumenten, Fakten und Erkenntnissen, aber auch an Lügen zur Verfügung steht. Und zwar ungeschminkt und ungeschwärzt. Jedes Detail, das sollte sich prompt zeigen, könnte von Belang sein, irgendeinen Saukerl auffliegen zu lassen. Genau so sahen das auch Richard Wagner und Johann Lippet. Wir tauschten alle Blätter untereinander aus. Das brachte uns weiter, und so kamen wir schnell auf die Spur der Verräter, wobei es uns bisher nicht gelungen ist, alle IM nahtlos zu entzaubern, die in unseren Akten rumspuken. Die CNSAS-Behörde ist dabei nicht hilfreich, die Mitarbeiter dort behaupten doch allen Ernstes, die IM nicht namentlich zu kennen. Mir wurde auf meine schriftliche Anfrage hin ein einziger Name genannt, der eines verstorbenen, nahezu unbekannten rumänischen Dichters, der immer Nikolaus Berwanger umschwänzelte, meinen damaligen Chefredakteur bei der NBZ, so lange, bis mich Berwanger bat, für den Kulturboten der Zeitung doch ein Gedicht von ihm ins Deutsche zu übersetzen. Dafür hat er sich netterweise ... gerächt. Ich hantiere nicht so gerne mit dem Begriff Stolz, aber in diesem Kontext deiner ins Schwarze treffenden Frage würde ich darauf rekurrieren. Ja, ich bin heute wie damals stolz darauf, dass ich unbeugsam war und es geblieben bin. Heute frage ich mich oft, ob ich immer noch den Mut, die Energie, die Überzeugungskraft hätte, solchem Druck zu wiederstehen? Ich bin da unsicher. Ich war damals jung und kam mir wie ein Siegfried vor. Ich wusste aber auch, meine Frau ist an meiner Seite, und ich konnte mich auf sie verlassen, dass sie sich im Ernstfall um unseren Sohn kümmern würde. Über den Fall, was ist, wenn sie dich einsperren, haben wir nie gesprochen, das haben wir weggedrückt, für diese Gefahr war ich seltsamerweise blind. Man könnte auch sagen, typisch Samson! Vielleicht blieb ich deshalb stark, weil ich über meine Schwächen und meine Verwundbarkeit kaum Gedanken verlor und so tat, als müsste ich am Ende des Endes die Pfeiler eindrücken und die Philister mit mir im Tempel begraben. Oh ja, ich suchte mein Leben, das von heute im Gestrigen, ich suchte es mit den Augen dieser Tage in jenem Land des Verrats, in dem man mir fast den Atem abgeschnürt hat. Ich hatte den Eindruck, mein Körper ist gerädert, doch ich wusste auch, da musst du durch. Alles noch einmal von vorne, das ist keine leichte Entscheidung. Es wäre so einfach gewesen, wegzugehen, die Tür hinter mir zufallen lassen, ins Flugzeug zu steigen, über die Wolken zu gleiten und alle Verlogenheiten, die mich mehr verletzten als jene, die sie begangen haben, abzustreifen. Als ich deinem Drängen, lieber Stef, nachgab, meine Akten doch einzusehen, da ahnte ich von solchen Befindlichkeiten noch nichts, mir war lediglich klar, ich würde gewiss auf dem Papier Gestalten in Metamorphose begegnen, die sich wie Dorian Grays von Freunden in Verräter verwandeln, von makellosen Schönheiten in eklige Fratzen. Wer würde es sein, fragte ich mich noch im Hinflug nach Bukarest, und das Jagdfieber legte sich eisern um meine Gedanken, ließ sie nicht mehr frei.
Auch aus unseren Reihen haben IM wie „Voicu“, „Walter“ oder „Sorin“ vermutlich nie geglaubt, dass ihre Ruchlosigkeiten eines Tages ans Licht kommen. Auf manche, die mir da aus den Akten als IM entgegenkamen, hatte ich gewartet, andere tauchten überraschend vor mir auf.

Sienerth: Dein beruflicher Werdegang ist in mancherlei Hinsicht anders verlaufen als der deiner etwas älteren Banater Dichterfreunde. Deine Familie ist durch die Deportation in den Baragan, wo du geboren wurdest, von den politischen Ereignissen ärger betroffen worden als die vieler deiner Schriftstellerkollegen. Auch hast du im Unterschied zu ihnen nicht Germanistik studiert, sondern hast dich am Pädagogischen Lyzeum im siebenbürgischen Hermannstadt, bevor du Journalist wurdest, zum Grundschullehrer ausbilden lassen.

Samson: Das ist richtig. Meine Eltern wollten, dass ich deutscher Lehrer werde, und sie wollten, dass ich bei den buchbeflissenen Siebenbürger Sachsen studiere. Sie hielten deren Schulen für die besseren, und so schickten sie mich als Vierzehnjährigen 600 Kilometer weit in die Fremde, zu den Aufnahmeprüfungen nach Hermannstadt, und waren bereit, im Erfolgsfall für meine Bildung viel mehr Geld in die Hand zu nehmen, als wenn ich im Banat geblieben wäre. Ich rechne ihnen das hoch an. Ich komme aus einer bürgerlichen Familie, meine Großeltern beiderseits waren Geschäftsleute mit eigenem Laden, mit Wirtshaus, Tanzsaal und Kegelbahn, meine Mutter war Staatsangestellte, arbeitete in der familieneigenen Sodawasserabfüllanlage für den Staat, und mein Vater war gelernter Kaufmann, durfte jedoch als ehemaliger Soldat bei der Waffen-SS, er war Meldefahrer bei der Nordland-Division, und als Deportierter in der Baragansteppe lange Zeit nicht in diesem Beruf arbeiten. Er schuftete in den Schweineställen des Schweinemastkombinats in Marienfeld und im Kuhstall der Staatswirtschaft in Albrechtsflor, bis sich die Zeiten öffneten und er Jahre später dann als Geschäftsführer den neu gebauten Universalladen der Handelskooperative übernehmen durfte. Im weißen Kittel stand er da oft vor den riesigen Glasfenstern, die Hände in den Taschen und palaverte mit der Kundschaft. Er war ein großer Büchernarr und ihm missfiel, dass bei uns im Banat die Intelligenz immer noch wie vor dem Krieg und der Enteignung in Hektar gemessen wurde, wie er gelegentlich satirisch anmerkte. Auf die Sachsen hielt er, was die Bildung anlangte, große Stücke. Während unsere Bauern von nachts bis abends spät auf dem Feld rackerten, haben die Sachsen bibliothekenweise Bücher gelesen, sagte er oft verschmitzt. Er konnte ein echter Galgenvogel sein! Als ich dann mit einer sächsischen Frau heimkehrte, waren er und meine Mutter von ihr geradezu begeistert. Vater trug sogar eine kleine Fotografie von Edda, meiner Frau, in seiner Brieftasche – bis ans Ende seiner Tage.

Sienerth: Wenn man die Gedichte deiner frühen Bände liest und sie in den literaturgeschichtlichen Kontext der 1970er und 1980er Jahre stellt, hat man gelegentlich den Eindruck, dass dir die Kollegen der „Aktionsgruppe Banat“ sowohl in der abgehandelten Thematik als auch in der künstlerischen Innovation oft „um eine Nasenlänge“ voraus waren. Ist aufgrund deiner anders verlaufenen Biografie für dich als Schriftsteller auch ein unverkennbares Nachhol- und Einholbedürfnis entstanden?

Samson: Ja, das war auf jeden Fall so. Ich sagte ja schon, ich kam aus einer ganz anderen Himmelsrichtung, dort spielte die Musik. Ich mochte Gedichte, aber ich konnte nur schlechte schreiben, die stehen in meinem Erstlingsbändchen Der blaue Wasserjunge. Ich entflammte aber damit ganz schnell für die Literatur, besonders für Lyrik, musste aber viel dazu lernen, fraß Bücher, hatte plötzlich Zugang zu moderner Literatur, die unter den damaligen Autoren zirkulierte, und schaffte mir eine eigene beachtliche Bibliothek an, steckte viel Geld in Bücher, etwa in Solschenizyns Archipel Gulag, den ich mir aus Deutschland bringen ließ. Ein Band kostete, wenn ich mich richtig erinnere, um die 48 D-Mark, die drei Bände bedeuteten für mich ein kleines Vermögen – berücksichtigt man den Schwarzmarkt-Umtauschkurs von damals 15 Lei pro D-Mark. Ab meinem zweiten Gedichtband, dem preisgekrönten Buch tiefflug, ging ich beachtenswerte eigene Wege, entdeckte eine originäre Art, mich dichtend mit der rumäniendeutschen Problematik auseinanderzusetzen und entwickelte meinen eigenen Stil. Ich war ganz tief im Rumäniendeutschen verhaftet, das ist schnell nachgelesen. Und ich war im Grunde genommen ein Einzelgänger, ein Baragansteppenwolf, wenn du so willst. Ich gehörte zwar zur Gruppe, aber eben nicht zur „Aktionsgruppe“, das bleibt immer so. Den Einzelgänger sehen manche nicht in mir, weil ich immer mittendrin agierte und als Sekretär des Literaturkreises mehr Einfluss auf die literarischen Aktivitäten des Kreises hatte als die meisten anderen. Hinzu kam, dass Nikolaus Berwanger mich mochte und ich ihn auch. Ich bin ihm bis heute dankbar, dass er mich aus der Schule rettete und mich buchstäblich in einer Nacht- und Nebelaktion zur Zeitung befördert hat – eine unglaubliche Chance, die mein Leben grundlegend veränderte. Ich befreundete mich mit Eduard Schneider, der als Leiter des Feuilleton der NBZ auch mein Chef war. Er ist sehr belesen und achtsam in seinen kritischen Äußerungen zu und über Autoren und Literatur, das tut gut und hilft weiter, wenn jemand weiter will. Ich mochte ihn von Anfang an und lernte viel von ihm. Nur seine Gelassenheit, die ist auf mich nie übergesprungen, die hätte ich manchmal gut gebrauchen können, auch hier in der Bundesrepublik Deutschland. Richard Wagner, Johann Lippet, Herta Müller, William Totok, Rolf Bossert, Balthasar Waitz und gelegentlich Gerhard Ortinau oder Gerhardt Csejka – da gab es oft hochspannende Streitgespräche über Texte, Bücher und viel zu lernen. Hinzu kam noch mein Lektor Franz Hodjak, ein wunderbarer Dichter, geistreich, tierisch satirisch, doch auch ein geduldiger Lehrer, ein verlässlicher Freund. Oder Peter Motzan, ein Kenner, Könner und Wissender, den ich über alles schätze. Und dich, lieber Stef, nicht zu vergessen, dich gibt es ja auch noch in jenem schönen Reigen von Literaturbeflissenen, die mir damals nahe standen und in Rumänien meine Wege kreuzten. Da bin ich doch wirklich zu beneiden. Viele gesprächsreiche Stunden verbringe ich regelmäßig mit Johann Lippet in Sandhausen bei Heidelberg, wir verstehen uns wie Brüder. Er hat seine „Securitate“-Akte blendend aufgearbeitet. Sein inspiriertes Manuskript „Wieso schläfst du?“ Chronologie einer Bespitzelung setzt Maßstäbe.

Sienerth: In deine lyrischen Texte sind neben zahlreichen anderen Anregungen verständlicherweise auch Erfahrungen eingeflossen, die du während deiner einzelnen Lebensstationen gemacht hast. Die Realität des banatschwäbischen Dorfes ist freilich künstlerisch kodifiziert, ebenso präsent in deinen Texten wie Siebenbürgen mit seiner Landschaft, seiner Kultur und Geschichte. Später kam die Aufarbeitung der Erfahrungen, die du in Temeswar und sonst im kommunistischen Rumänien machtest, hinzu, die deinen in der Zeitschrift „Neue Literatur“ und in den Verlagen „Dacia“ und „Kriterion“ veröffentlichten Texten, eine unverkennbar eigene Note verliehen. Wie ist es dir in relativ kurzer Zeit gelungen, von einem Lyriker mit verfrühtem Buchdebüt zu einem der profilierten rumäniendeutschen Autoren der damals jungen Generation zu werden?

Samson: Ich habe hingesehen, genau und aufmerksam hingesehen, auf mich, auf mein Umfeld, auf die Literatur, auf die Menschen und die Machthaber im Lande. Und ich habe darüber nachgedacht, genau nachgedacht. Ich habe zugehört, ich habe nicht weggesehen, ich blieb immer geradlinig, ich habe meine Erkenntnisse miteinander vernetzt, ich habe mitgeredet und ich habe geschrieben, im Schreibprozess wurde mir vieles tiefer bewusst. Gewiss half mir auch Talent, schnelle Auffassungsgabe und meine frühe Begeisterung für Musik ließ mich todsicher genauer auf Töne, Nuancen, Variationen und Improvisationen horchen, die gesamte Geräusch- und Faktenkulisse um mich herum tiefer durchdringen und emotional nachhaltig verarbeiten. Vielleicht half mir auch Übergeordnetes – ich bin im Sternbild des Zwillings geboren. Ein Zwilling begreift schnell, hat er aber begriffen, wird ihm die Sache mitunter auch schnell langweilig. Das ist in mancher Hinsicht so. Es gibt bisher für mich nur drei Ausnahmen, die mich bei der Stange hielten: meine Frau, mein Sohn und die Gedichte. Es sind die Reibflächen, die mich aufwecken, die mich drängen, die Dinge zu benennen, sie zu thematisieren, in einem Interview ebenso, wie in einem Gedicht, Brief oder Essay. Die Schäubles dieser Republik legen die Vaterlunte an die Demokratie, das ist gegenwärtig keine ultimative Gefahr, aber wehe, es ändern sich die Zeiten und der politische Pöbel übernimmt die Hebel des Machtapparates! Überhören, übersehen, verkennen, abstreiten, verleugnen, verdrängen, verschwitzen, übertünchen, übersehen, totschweigen, wegsehen, vergessen – das sind Vokabeln, die zu durchsuchen und zu verhören wären. Josef K. aus Kafkas Roman Der Prozess war nicht nur Opfer, sondern in hohem Maße auch Täter und Gehilfe der Macht. Das sollte die Lehre sein. Im Unterschied zu meiner Zeit in der Ceausescu-Diktatur interessieren sich hierzulande junge Schriftsteller so gut wie gar nicht für politische, gesellschaftliche Reibflächen der Gegenwart – weder im Lande, noch außerhalb. Sie sehen da keinen Stoff für ihre Prosa, für ihre Gedichte, ihre Theaterstücke, für ihr Gewissen. Die „Feuchtbiotope des Unterleibs“ – das ist es, was Leser, Literaturkritiker und den medialen Verdummungsapparat zu echten Höhepunkten treibt, alles andere ist Rosstäuscherei. In einem Land, in dem die Bestsellerliste das leuchtende Werbebeispiel und der Empfehlungsmaßstab der Buchhändler und der Journaille geworden ist, haben wir uns doch alle schon ein gutes Stück weit aufgegeben. Darüber zu klagen ist fast schon unlauter, denn wir haben genau das, was wir alle verdienen.

Sienerth: Wie konnte es geschehen, dass der AMG-Literaturkreis an der – wie du es nennst – „Bulhardt-Affäre“ zerbrochen ist, als der Bukarester Schriftsteller Franz Johannes Bulhardt bei euch Mitglied werden wollte?

Samson: Ich wüsste das auch gerne! Aber im Ernst gesprochen – Fakt ist auf jeden Fall, der AMG ist nicht an Bulhardt zersplittert, es muss gewichtigere Ursachen gegeben haben, richtig ist aber auch, Bulhardt war nur ein Stichwort, war der äußere Anlass zur literarischen ,Kernspaltung’. Ich fasste erst vor kurzem in einer langen E-Mail an Richard Wagner den Bulhardt-Handlungsstrang zusammen, wie er sich damals entwickelte und uns darin verwickelte. Eines Tages ließ Nikolaus Berwanger – aus Bukarest kommend – den Franz Johannes Bulhardt aus dem Sack. Der wolle bei uns Mitglied werden und auch eine Lesung abhalten. Berwanger war als Leiter des Literaturkreises damals sehr stolz, dass immer mehr deutsche Schriftsteller aus anderen Landesteilen Mitglied im Temeswarer „Adam-Müller-Guttenbrunn“-Literaturkreis wurden, nicht nur Rolf Bossert, der damals in Bukarest lebte, auch Joachim Wittstock aus Hermannstadt oder Hellmut Seiler aus Târgu Mure?, um nur einige Beispiele von ,Auslandsbanatern’ zu nennen, die die Ziele und den Literaturkreis stützen wollten. Der AMG war damals in allen Belangen der stärkste Literaturkreis, mauserte sich zum „rumäniendeutschen Schriftstellerverband“, und die Provinz Temeswar, wo 1949 die erste Ausgabe der später nach Bukarest und noch später verrückterweise sogar in die Bundesrepublik Deutschland entführten Zeitschrift „Neue Literatur“ erschien, konturierte sich als literarische Hauptstadt. Der AMG hatte zwar eine Satzung, doch die war leider dermaßen stümperhaft von uns hingebreitet, dass es – aus heutiger Sicht fast schon ein Skandal war. Die Quintessenz: Jeder, ausnahmslos jeder, der den Mitgliedsbeitrag in Höhe von 100 Lei bezahlt, ist Mitglied im AMG, ob er Gedichte, Prosa oder nur Briefe an seine Tante geschrieben hat oder ob er Buchhalter war. Theoretisch hätte die gesamte Securitate AMG-Mitglied werden können.

Sienerth: Was war den eigentlich der Streitpunkt rund um den Zankapfel Bulhardt?

Samson: Mit Franz Johannes Bulhardt pochte ein stalinistischer Reimer und Verklärer an unsere Tür. „Auf dem Himmel blühen / Nicht mehr rote Wiesen, / Die ihr Rot entfachten, / Schmachten in Verliesen. / Knüppel, Sichel, Sense / Werden leicht bezwungen, / Wenn die Wucht des Hammers / Nicht wird mitgeschwungen!“ Bei solchen Versen befielen uns junge Autoren doch auf der Stelle die Pocken. Für mich war der ,Buli’, wie wir ihn gelegentlich nannten, ein Undichter, für andere, wie Richard Wagner, war er geradezu der Wackerstein des Anstoßes. Darf er oder darf er nicht – das war plötzlich die Frage aller Fragen. Es bildeten sich schnell zwei Lager, ein kleineres und ein größeres. Richard führte als stellvertretender Kreisvorsitzender das kleinere an, ich als Sekretär des AMG das andere. Er war dafür, Bulhardt die Mitgliedschaft zu verweigern und ihn nicht im Literaturkreis lesen zu lassen, ich vertrat die Meinung, dass die von uns allen gemeinsam formulierte und abgesegnete Satzung, die für alle anderen Bürger der Welt galt, auch für Franz Johannes Bulhardt gelten müsse, dass wir als Demokraten nicht willkürlich andere ausschließen dürften, dass wir nicht tun könnten, was wir prinzipiell kritisierten. Ihm die Mitgliedschaft zu verwehren, weil er Parteidichter, Intrigant oder sonst was war, weil wirklich keiner von uns ihn mochte, solche Willkür wollte und konnte ich nicht befürworten. Das war die Krux. Eine Selektion der Mitglieder nach Gusto, das hätte uns in unseren hohen Ansprüchen unglaubwürdig gemacht. Wer andere willkürlich ausgrenzt – das wäre es nämlich gewesen –, hätte nach meiner Überzeugung das Recht verwirkt, nicht von anderen ebenfalls willkürlich ausgeschlossen zu werden, etwa weil er Brillen, einen Bart oder Krawatte trug, Deutscher, Biertrinker oder Parteimitglied war. Außerdem votierte ich dafür, Bulhardt lesen zu lassen und argumentierte damit, dass es für uns eine wunderbare öffentliche Stunde der Abrechnung mit der stalinistischen Parteidichtung werden könne. Für eine solche Auseinandersetzung gab es unter uns jungen Autoren eine Mehrheit an Sympathisanten. Doch Richard Wagner ließ sich nicht umstimmen, hatte für seine Position aber keine Mehrheit, nicht im Vorstand und nicht in der Mitgliedschaft. Daraus zog er die Konsequenz und kehrte dem Literaturkreis den Rücken. Das war ein Problem, und was für eines, leider aber auch eines, über das man sich bei der Securitate vermutlich am stärksten gefreut haben dürfte, war der AMG doch längst nicht mehr nur ein stumpfer Balken in ihren Augen. Warum es so kam, wie es kam, habe ich verstanden, aber nie begriffen. Fest steht, die von mir erhoffte Sternstunde der Abrechnung mit der stalinistischen Literatur und den Parteibarden fiel in die Pfütze, es wurde nichts daraus, und es wäre doch eine exzellente Gelegenheit gewesen, öffentlich reinen Tisch zu machen mit der Propagandadichterei. Wir hätten statt des Pegasus’ die Schindmähre aufzäumen können, mit denen wir die Hymnendichter in die Unterwelt hätten reiten lassen. Franz Johannes Bulhardt hat im AMG nie aus seinen Werken gelesen. Der AMG-Kreis ist jedoch weder an der Buli-Affäre zerbrochen, noch am Austritt von Richard Wagner, dennoch war klar, stärker waren wir nachher nicht in unserer Auseinandersetzung mit der RKP-Demokratur und dem NC-Spitzelstaate. Es war eine bittere Zeit, da wir zu schwächeln schienen, denn just zu diesem falschen Zeitpunkt kehrte auch der AMG-Vorsitzende Nikolaus Berwanger von einer Reise in die Bundesrepublik nicht mehr zurück. Keinen Vorsitzenden mehr, keinen stellvertretenden Vorsitzenden mehr – da verwechselte man uns leichtfertig mit einem führungslosen Haufen. Das Securitate-Pack und der Propagandasekretär des Temescher Kreisparteikomitees der Rumänischen Kommunistischen Partei, Eugen Florescu, waren sofort wach, hellwach. Und sie schlugen zu. Statt mit Diplomatie versuchten sie es mit der Brechstange, aber wir griffen in Notwehr zur Keule. Ich hatte damals als AMG-Sekretär und interimistischer Leiter des Literaturkreises mit dem Goethe-Institut in Bukarest eine öffentliche Lesung des bundesdeutschen Dichters Günter Herburger in Temeswar in die Wege geleitet. Die wurde von Florescu glatt verboten, der wohl meinte, die Dezimierung sei eine herrliche Gelegenheit, die Bevormundung der AMG-Leitung durchzusetzen und uns an die Kandare zu nehmen. Also wollte er mit uns Schlitten fahren und die Strippen ziehen, an denen wir als Marionetten tanzen sollten. Das ließen wir uns nicht gefallen und machten auch keinerlei Kompromisse. Ich bin heute sehr zufrieden, dass ich damals, anlässlich des Verbots der Herburger-Lesung, die Reißleine gezogen und in Übereinstimmung mit dem gesamten Vorstand – Franz Liebhard alias Robert Reiter, Johann Lippet, Eduard Schneider und William Totok – kurzen Prozess gemacht habe und wir als unübersehbares Signal blutenden Herzens den AMG auflösten – nach einstimmigem Votum. Selbst Anghel Dumbraveanu als Vertreter und Vorsitzender der Temeswarer Schriftstellervereinigung hatte sich in jener entscheidenden Vorstandssitzung zurückgehalten und Verständnis für unseren Protest gezeigt, statt sich blöd und parteipolitisch zu äußern – das muss man ihm zu Ehren erwähnen. Diesen Schlag ins Kontor hatte uns wahrscheinlich keiner zugetraut, niemand in der Partei und Securitate hatte wohl damit gerechnet, dass wir aus freien Stücken den AMG aufgeben würden. Der Coup katapultierte uns aus einer ausweglosen Situation an den längeren Hebel, mit dem freilich, da habe ich mir nichts vorgemacht, auch nichts auszurichten war. Aber immerhin waren die anderen jetzt im Zugzwang, plötzlich standen die Securitate, das Kreisparteikomitee, die Schriftstellervereinigung und die Parteispitze am Pranger. Wie von der Tarantel gestochen schreckten die auf, Hektik brach aus. Unserem Kabinettstückchen musste der Versuch folgen, den AMG wiederzubeleben, eine im damaligen Kontext perverse Situation. Jene, denen der AMG schon immer ein Dorn im Auge war und die ihn am liebsten zerschlagen hätten, liefen sich jetzt plötzlich die Füße wund, um ihm Leben einzuhauchen und irgendwelche und irgendwie akzeptierbare Nachfolger für einen neuen Vorstand zu finden. Selten ist Geschichte auf perfidere Art schön gewesen. Dass es trotzdem gelungen ist, eine Ersatzleitung zu installieren, kann heute noch verärgern, obwohl ich längst eingesehen habe, dass die ,Hinterbliebenen’ auch ihr literarisches Forum haben wollten, ja brauchten, statt nur verbranntes Land. Ich habe damals meinem Freund Eduard Schneider in einem Gespräch heftig vorgeworfen, dass er und die anderen sich als Werkzeuge ins Boot der Partei und der Propaganda hätten nehmen lassen und unsere Sache deswegen verraten hätten, aber ich meine heute, ich hatte damals Unrecht.

Sienerth: Du hast vergleichsweise spät, im Frühjahr 1987, Rumänien verlassen und die sich deutlich abzeichnende Endzeit des rumäniendeutschen Literaturlebens in Temeswar und darüber hinaus live miterlebt. Was war 1987 anders als etwa ein Jahrzehnt davor, als du mit einem ersten eignen Gedichtband an die Öffentlichkeit tratest?

Samson: 1987 war vieles anders als zehn Jahr vorher. Damals brauchte man den jungen Dichter Horst Samson, um zu zeigen, es gibt nicht nur die Aktionsgruppler, da kommen wieder andere junge Autoren nach, das Reservoire ist nicht leer. Das sollte ja auch stimmen, denn auch nach mir versiegte der Dichterzufluss keineswegs. Wilhelm Pauli, ein scharfzüngiger viereckiger Altlinker mit Sympathiewert und hohem Ironiequotienten, den ich aus meiner Heidelberger Zeit kenne, schrieb beim Erscheinen meines Gedichtbandes treffend wie trefflich: „Und Horst Samson, rumäniendeutscher Autor aus dem scheinbar unerschöpflichen Temesvarer Dichterpool, gewandert durch Heidelbergs Aussiedlerlager, entbirgt noch einmal das ganz sicher unerschöpfliche Heimweh, die Farben der angstdurchseuchten Heimatlosigkeit in einem Poem on Demand, La Victoire, geschrieben in Temesvar, Heidelberg, Leonberg, Hanau, Neuberg-Ravolzhausen. Allein, wer Hanau kennt, versteht seinen Schmerz.“ 1987 gehörte meine Zukunft – die literarische wie die berufliche – der Vergangenheit an. Ich selbst war vergangen, für die Öffentlichkeit jedenfalls, war ein verbotener Autor. Und die Morddrohung folgte mir und meiner Familie jeden Tag auf den Fersen, erzeugte Angst, Druck und Verunsicherung. Für mich war die Welt damals am Ende der Welt, und Heimat schien mir noch ein Wort aus sechs Buchstaben zu sein. Gehen oder vergehen – eine andere Alternative gab es nicht, jedenfalls sah ich keine. Ich stand unter mächtigem Druck, hatte die Verantwortung nicht nur für meine Frau und unseren Sohn, sondern auch für meine Eltern und Großeltern, weil klar war, dass ich sie nicht als Geisel zurücklassen durfte, weil ich mich erpressbar gemacht hätte. 1987 war ich ein kranker König ohne Land.

Sienerth: Im bundesdeutschen Literaturbetrieb hast du trotz Augenblicks- und Achtungserfolgen, im Unterschied zu einigen deiner Banater Dichterfreunde, erst spät richtig Fuß fassen können, zu beachtlichem Erfolg hat dir erst dein beeindruckendes Poem La Victoire verholfen, das von der Kritik zu Recht mit Lob bedacht worden ist. Ist in Zukunft mit ähnlichen „Würfen“ zu rechnen?

Samson: Ich bin kein Prosaautor und wollte auch in der Bundesrepublik Deutschland keiner werden. Ich sehe bisher wenig Sinn in inszenierten Dialogen, in manipulierten Geschichten: „Er griff nach dem Aschenbecher und schob ihn unwillkürlich von der linken Schreibtischecke in die rechte. Da hing dieses Foto der jungen Frau vor ihm. Er stierte darauf, sein Blick bohrte sich durchs Glas, durch die Wand. Dahinter lag die Bucht von Mamaia, und er sieht, wie sie in dem blauen Bikini lächelnd auf ihn zuläuft, wie sie weit ausholt und mit einer Hand voll Sand nach ihm wirft. Plötzlich steht jener verhängnisvolle Tag vor seinem Auge, jener unvergessliche Tag, der so unscheinbar begann, wie eine leichte Welle, die gemächlich auf das Ufer zu schaukelt. Nachdenklich zieht er an der Zigarette.“ Warum sollte ich das aufschreiben? Viele Romane lassen sich, ich will großzügig sein, ohne Verluste auf zwei Dutzend Seiten reduzieren, manche auch nur auf ihre Buchdeckel. Das ist bei Lyrik aber oft nicht anders. Dennoch ist das Gedicht mir Heimat. Als Dichter verhungerst du aber in diesem Land, bist abhängig und unfrei. So konnte ich nicht leben. Ich war ja eine Zeit lang in Hanau freischaffend, wir lebten von dem Gehalt meiner Frau, nicht einmal schlecht. Es war dennoch schrecklich, irgendwann hatte ich Selbstmordgedanken, in mir reifte die Selbstzerstörung. Jetzt oder nie, sagte ich mir gerade noch rechtzeitig und entschied mich für den Brotlaib. Ich will mich nicht beklagen, denn das sind immerhin drei gut dotierte Literaturpreise pro Jahr, aber nach einem Zehn-Elf-Stundentag als Journalist oder Redaktionsleiter ist man ausgebrannt. Immerhin schaffe ich zehn bis zwanzig Gedichte in einem Jahr, ein Schneckentempo, ich weiß, aber ich bin zufrieden und hoffe, dass ich mindestens eines meiner drei großen Poem-Projekte noch beenden kann. Im Hirn brennen ein Poem über das Feuer, eines über die Jagd und vielleicht noch eines über Farben und Töne. Hoffentlich geht es mir nicht wie meinem ehemaligen Kollegen bei der „Neuen Banater Zeitung“ in Temeswar, Ludwig Schwarz. Er erzählte mir gelegentlich bei einem Bier sehr prägnant und ausgeschmückt von seinem Roman über die Baragansteppe, Das Dorf ohne Schatten, an dem er schreibe, ein Buch über jenen Landstrich der Deportation, in dem ich geboren wurde und wo er als Deportierter eine Baustelle mit hochgestellten politischen rumänischen Häftlingen leitete. Seine Arbeit daran zog sich aber in die Länge. Nach seinem Tod, als der Nachlass gesichtet wurde, war ich nur gespannt auf dieses Typoskript. Doch es existierte nichts davon, keine beschriebene Seite, lediglich ein Blatt gab es, auf dem stand: Das Dorf ohne Schatten, Roman von Ludwig Schwarz. Oft habe ich gedacht, vielleicht müsste, sollte ich dieses Buch schreiben, sei es auch nur ein Buch über diesen nicht existierenden Roman und seine verschollene Welt.